10. Reisebericht in KaWe - Kurier 45/03

Russland IV
Novosibirsk (Новосибирск) - Irkutsk (Иркутск), 13. - 23. Juli, km 12300

Sibirien ist gross, Sibirien ist weit, Sibirien ist kalt. Doch lezteres trifft ein Glück nur für den langen, harten Winter zu, indem wir mit unseren Motorrädern hoffentlich schon viel weiter südlich reisen. Der kurze aber intensive Sommer ist hier gut zu ertragen. Naja - die Insekten konnen schon ganz schön lästig werden, aber im übrigen behält Sibirien für uns seine eigenen Faszination.

Am 13.7. passieren wir die Stadt Novosibirsk (Новосибирск). Wie bei allen sibirischen Grossstädten ist es stets bemerkenswert, wie sich nach vielen Tagen überzeugenster Eintönigkeit - rechts Birken mit Sumpf, links Sumpf mit Birken - eine einzigartige Matamorphose beobachten lässt. Eben noch im tiefsten Morast, hier und da ein verschlafenes Dörfchen, wie es russicher gar nicht sein kann, nimmt auf der Hauptstrasse plötzlich der Verkehr zu. Mitsubishi Pajero oder Toyota Landcruiser mischen sich unter die nicht wegzudenkenden Ladas, Moskwitschs und Wolgas. Anfangs noch schüchtern dann mit brachialem Selbstbewusstsein tauchen unübersehbare Werbetafeln am Strassenrand auf. Dann zieren Häuserzeilen im altbewährten russichen Holzbaustil beide Seiten der Trasse. Es dauert ein Weile bis sich das idyllische Landschaftsbild mit "Am Arsch der Welt" Charakter zu einer Grossstadtmetropole morpht. Mitten im Zentrum erinnern dann nur noch die kyrillischen Schriftzüge über den Geschäften und das allgegenwärtige Strassengemurmel daran, dass man sich immer noch im tiefsten Sibirien befindet.

Wieder raus aus der Stadt ändert sich erstmal unser ach so geliebtes Naturbild. Es wird hügelig und wäldrig. Die Birken müssen jetzt im Zweikampf mit Kiefern bestehen. Das Panorama gibt sich schon verdächtig taigahaft. Nach einigen Tagen starten wir wieder mal einen Bauer-Horst Versuch mit Erfolg. Erstaunt stellen wir aber fest, dass unser Bauer gar nicht Horst heisst, sondern Wasja. Klar - wir sind ja auch in Russland. Nach dem abendlichen Schmaus unternehme ich noch einen Spaziergang durch die Gassen des Dorfes. Die Sonne hat ihr rotes Rund schon jenseits der bewaldeten Horizontlinie versteckt. Inzwischen liegen die Gehöfte in dickem Nebel. Sie wirken dunkler und verlassener als sonst. In einigen Zimmern sieht man die typische russische Beleuchtung, die aus einem einfachen Kabel mit einer Glühlampe daran befestigt kurz unter der Decke hängt. Gardinen sind Luxus, der hier natürlich fehl am Platz ist. Man hört vereinzelt Männerstimmen, die auf Russisch Trinksprüche aufsagen oder über einen Witz lachen. Am Himmel ist nur noch ein Wolkenstreifen zu erkennen, der sich im Abendrot verliert. Weiter am Horizont schauen die Spitzen der Nadelbäume aus dem dichten Nebelteppich hervor. Sie symbolisieren die mächtige Unendlichkeit der russischen Taiga und plötzlich wird mir bewusst, dass ich mich mitten in Russland befinde. Wie schwer ist es für mich, mir das kontinuierlich bewusst zu machen, die Gegenwart in freien Zügen zu leben. Zu oft wandern meine sehnsüchtigen Gedanken nach Wildau, nach KaWe und seiner Umgebung. Ich merke, dass ich viele Personen und Orte tief in meine Herz geschlossen habe. Je mehr Kilometer mich davon trennen, umso bewusster wird mir diese Tatsache.

Tags darauf packen wir wieder unsere sieben Sachen und nähern uns einer weiteren bekannten sibirischen Metropole. Krasnojarsk hinter uns lassend, stehen wir nun vor den Toren der Stadt Irkutsk (Иркутск). Nun sitzen wir schon ein Vierteljahr im Motorradsattel. In dieser Zeit ist unsere Ausrüstung, auf die wir tagtäglich angewiesen sind, den extremsten Belastungen ausgesetzt gewesen. So stehen für den Besuch der Stadt mehere wichtige Punkte auf dem Programm. Während Lo uns in der Bank neue Rubel besorgt, sitze ich auf den Treppen zum Lenindenkmal, welches das Zentrum der Stadt darstellt. Ein Wuschelkopf fragt mich: "Where you're from?" Nach meiner Antwort höre ich von ihm in sächsischen Dialekt: "Na da gönn wa uns jo uff Deutsch unterhalten."

Andreas kommt aus Dresden. Mit seiner Freundin Anette hat er sich in der Mongolei eine alte Ural (russisches Motorrad mit Beiwagen) gekauft und ist nun wieder unterwegs in die sächsische Heimat. Ich bin mehr als überrascht, dass die beiden uns über den Weg laufen, da wir von ihnen schon gehört hatten. Die beiden Entenfahrer (siehe letzter Bericht) erzählten uns von diesen beiden Verrückten.

Es dauert nicht lange, da hält auf der gegenüberliegenden Strassenseite ein Kleinbus. Fünf verdächtig deutsch anmutende Gestalten kommen geradewegs auf uns zu. Abermals haben wir die Ehre und lernen fünf Sachsen kennen. Sie machen hier jeden Sommer die Gegend um den Baikal (Байкал) unsicher. Dann, aufmerksamn geworden durch unsere angeregten lauten Gespräche, nähern sich uns noch zwei Berliner Mädchen. Die Situation wird zu komisch. Mitten im tiefsten Russland, 10000km fern der Heimat entsteht ein absolut zufälliger Ossi-Treff am Lenindenkmal. Die Welt ist eben ein (russischen) Dorf.

Am nächsten Tag müssen sich unsere Jamies einer Durchsicht unterziehen. ölwechsel, Luftfilterwechsel, Ventileinstellung und und und beschäftigen uns einen gesamten Tag. Noch sind nicht alle Programmpunkte abgehakt, und so fahren wir am dritten Tag zu einer Fabrik, wo wir Nikolai um Hilfe bitten. Er ist jeden Tag damit beschäftigt Leichtmetallreparaturen durchzuführen. Den Riss in der Wand meiner linken Alukiste schweisst Nikolai gegen ein Foto seiner recht wüst aussehenden Werkstatt, welches ich ihm verspreche zuzuschicken.

Unglaublich, welche Probleme sich mit etwas Zeit und Muße im Handumdrehen lösen lassen. Man ist dieserorts nicht so wirtschaftlich stark entwickelt wie daheim, aber vielleicht gerade deswegen weiss man sich hier zwischen Ural (Урал) und Baikal (Байкал) immer noch am Besten selbst zu helfen. - Danke Nikolai!